Erdbeben in San Francisco

 
 
 
 
     
  Erdbeben in San Francisco
 
 
  Knapp drei Minuten lang bebt am 18. April 1906 die Erde unter Kalifornien. In San Francisco reißen Straßen auf, Häuser stürzen ein, Menschen werden unter Trümmern begraben. Dann verheeren Feuersbrünste die glitzernde Metropole des amerikanischen Westens. Die Katastrophe, die weltweit entsetzen auslöst, erschüttert den Fortschrittglauben des jungen 20. Jahrhunderts.  
     
  Das Licht des ersten warmen Frühlingstages zeigt sich gegen 4.45 Uhr über dem Pazifik. Als die Glocke der Old St. Mary's Church in Chinatown die volle Stunde schlägt, leuchten schon die Hügel von Oakland und Livermore auf der anderen Seite der Bucht. Mit einem leisen Zischen erlöschen um 5.08 Uhr die Gaslaternen.  
     
  Zur gleichen Zeit legt ein Mitarbeiter in einem Maschinenraum der Cable Car Company einen Hebel um. Riesige Metallräder beginnen sich zu drehen, dicke Stahlseile spannen sich, und die Waggons der Straßenbahn rollen quietschend aus ihren Schuppen, um die Menschen von San Francisco zu ihren Büros, Geschäften und Manufakturen zu befördern. Zwischen den Häusern verbreitet sich der kräftige Geruch von Holzfeuer - die ersten Frühaufsteher bereiten ihren Kaffee auf dem Ofen zu.  
     
  Um 5.12 Uhr fährt das Kohlenschiff "Wellington" in die Bucht von San Francisco ein. Der schwere Dampfer beginnt plötzlich zu zittern und zu rütteln, so beschreibt es der Hafenlotse, "wie ein ungefederter Wagen, der auf einem Knüppeldamm fährt". Die Wasseroberfläche aber ist spiegelglatt.  
     
  Am Ocean Beach im Westen der Stadt legt der Arbeiter Clarence Judson seinen Bademantel auf den Strand. Wie jeden Morgen will er sich im Meer erfrischen.  
     
  Irgendetwas stimmt nicht. Die Wellen treffen nicht wie sonst als parallel laufende Brecher auf den Sand, "sondern schräg, in gebrochenen Linien, in einer teuflischen, zackigen, reißenden Bewegung", wie sich Judson später erinnert.  
     
  Er wagt, sich dennoch in die Brandung. Sofort wird er nach unten gerissen, hochgespült, drei Mal. Sein Magen füllt sich mit Salzwasser. Judson kämpft sich an Land, versucht zu rennen, fällt immer wieder in den Sand. "Ich dachte: ein Blitzschlag. Der ganze Strand schien zu fluoreszieren. Meine Schritte hinterließen eine glitzernde Spur."  
     
  Eine Naturgewalt aus der Tiefe der Erde, entsprungen in Gesteinsschichten unter dem Ozeanboden, hat das Festland erreicht. Die Schockwellen des Bebens bahnen sich ihren Weg von der Küste ins Zentrum von San Fran-cisco, unter anderem entlang der gut sechs Kilometer langen Washington Street.  
     
 
Erdbeben in San Francisco 1906   Im Licht der Morgen-dämmerung beobachtet der Streifenpolizist Jesse Cook, dass die Gebäude an der Straße von einer unterirdischen Kraft hochgehoben werden und dann wieder absinken - eine unaufhaltsame Riesenwelle aus Stein und Holz, mit einer Gischt aus stürzenden Ziegeln. Die Straßen bauschen sich auf, Pflastersteine tanzen
    wie Popcorn in der Pfanne.
 
  Der Erdboden würgt Rohre und elektrische Kabel hervor, herabhängende Stromleitungen versprühen blaue Blitze, "krümmen sich und zischen wie ein Reptil", Gasleitungen bersten.  
     
  In der Davis und der Washington Street öffnen sich Risse, einige mehrere Meter tief. Manche schließen sich binnen Sekunden wieder, unter Getöse.  
     
  "Wie eine außerirdische Bulldogge", so schreibt später der Reporter James Hopper vom San Francisco "Call", habe die Katastrophe sich auf die Stadt gestürzt, brüllend mit hungrigem Ungestüm, ohne Zweifel an ihrem Ziel: Zerstörung. Sie "schüttelte die Erde wie eine Ratte zwischen ihren scharfen Zähnen, schüttelte, schüttelte, schüttelte, mit immer neuen Ausbrüchen wilder Wut".  
     
  Mauersteine und Gesimsbrocken fallen in Kaskaden von den schwankenden Gebäuden. Deckengips rieselt wie grobes Salz auf Betten und schlafende Körper nieder. Die massiven Säulen unter der Kuppel des neuen Rathauses zerspringen mit einem Geräusch wie Kanonendonner.  
     
 

Erdbeben in San Francisco 1906

 
     
  In der Valencia Street sinkt ein vierstöckiges Hotel in sich zusammen, als ob jemand ihm das Fundament weggezogen hätte. Das oberste Geschoss ist nun auf Straßenebene. Darin überleben ein jüdischer Schneider und seine Frau, ein alter Maler und dessen Kanarienvögel. In den Stockwerken dazwischen werden mehr als 100 Menschen zerquetscht und getötet. In kaum einem anderen Gebäude von San Francisco werden so viele Menschen auf einmal verschüttet.  
     
  In seinem Haus an der Washington Street ist der Geographieprofessor George Davidson von dem Tumult erwacht. Im Pyjama taumelt der 81-jährige Forscher zum Schreibtisch, wo er seine Armbanduhr findet. Davidson überschlägt, wie viel Zeit verstrichen sein könnte, addiert die Sekunden. Den ersten Stoß stoppt er mit 60 Sekunden. Dann eine Pause, ein Grollen. ein weiterer Stoß. Ähnlich lang, weniger stark. Seine Hauptbe-wegung scheint in nord-südlicher Richtung zu verlaufen.  
     
  Die Erde unter Kalifornien ist um fünf Uhr, zwölf Minuten, null Sekunden Pacific Time aus den Fugen geraten - "plus oder minus zwei Sekunden". Eine Kommission wird Davidsons Schätzung später als den offiziellen Zeit-punkt für den Beginn einer Megakatastrophe übernehmen - der größten in der Geschichte der amerikanischen Westküste. Zweieinhalb Minuten später, nach einem letzten, irrwitzigen Zucken des Erdbodens, wird es still in San Francisco.  
     
  Fast alle Häuser in der Innenstadt sind beschädigt, aber die meisten stehen noch.  
     
  Die Straßen füllen sich mit Menschen, manche von ihnen sind im Morgen-mantel, andere im hastig übergestreiften Smoking vom vorangegangenen Abend. Ihre Haare sind zerrauft, voller Staub und Mörtel, einige bluten.  
     
  Hustend drängen sie sich in den Straßenmitten, möglichst weit entfernt von Hauswänden und Dachgiebeln. Sie wagen nur zu flüstern. Als könnte ein zu lautes Wort das fragile Gleichgewicht der Erdgewalten wieder Zu-nichte machen. Nicht einmal die Kinder weinen.  
     
  Hier und da stürzt noch ein Kamin ein, zerschellt ein Sims auf dem Gehweg, knackt ein Balken unter der Last der Trümmer: Vereinzelte Geräusche, "wie das letzte Tröpfeln eines erschöpften Regens", so erinnert sich James Hopper vom "Call". Dazwischen: "Entsetzliche Stille. Und dann beginnt unten in der Gasse jemand zu stöhnen. Ein Frauenstöhnen, weich und gedämpft."
Es scheint vorbei.
 
     
  Heute wissen Geologen, dass die Katastrophe nach den Gesetzen der Plattentektonik unvermeidlich war. Weil die Pazifische Platte im Westen der USA auf die Nordamerikanische trifft; weil hier ein mehr als 1000 Kilometer langes Spaltensystem die Grenze zwischen beiden markiert: die San-Andreas-Verwerfung. Sie zieht sich vom Kap Mendocino im Norden Kaliforniens bis in die Nähe des mexikanischen Küstenstädtchens Puerto Vallarta.  
     
  Die Pazifische Platte schrammt dreieinhalb Zentimeter pro Jahr in Richtung Nordwesten an der Nordamerikanischen Platte entlang, ein unaufhaltsames kontinentales Floß auf dem zähflüssigen Erdmantel, unterwegs seit 30 Mio. Jahren. Tief unter dem Boden Kaliforniens verhaken und verkanten sich dabei Gesteinsschichten, bauen mit der Zeit enorme Spannungen auf, die sich immer wieder in Erdbeben entladen.  
     
  An diesem Morgen hat eine steinerne Blockade tief unter dem Meer dem über Jahrzehnte angestauten Druck nachgegeben: Das Epizentrum des verheerenden Bebens haben die Wissenschaftler nach Auswertung aller Daten wenige Kilometer südwestlich der Golden Gate Bridge lokalisiert.  
     
  Seismologen haben auch berechnet, dass der Erdstoß eine Stärke von 7,8 auf der Richter-Skala hatte; haben geschätzt, dass sich seine Schock-wellen je nach Gestein mit einer Geschwindigkeit von mehr als drei Kilo-metern pro Sekunde ringförmig um das Epizentrum ausbreiteten; haben herausgefunden, dass seine Kraft in einem Umkreis von mindestens 500 Kilometern für Menschen spürbar gewesen ist. Eine halbe Million Quadrat-kilometer Land wurden erschüttert: von Anaheim nahe Los Angeles bis hinauf nach Coquille im Bundesstaat Oregon. Schäden im Wert von 235 Mio. Dollar (das entspräche heute je nach Umrechnung wohl einer zwei-stelligen Milliardensumme) wurden bei über 100 Versicherungen gemeldet.  
     
  Das alles lässt sich fassen, messen, zählen. Vielschichtig, widersprüchlich aber bleibt bis heute die Bewertung der Folgen, die die entfesselte Natur-gewalt im Jahre 1906 für die Menschen von San Francisco hatte.  
     
  Noch nicht einmal die genaue Zahl der Todesopfer ist bekannt. Ein offi-zieller Bericht bezifferte sie zunächst mit 478, später mit 450. Heute, nach Auswertung vieler Nachlässe und privater Briefe, nehmen Historiker an, dass annähernd 4000 Menschen während der Katastrophe erschlagen wurden, unter Schutt erstickt sind oder verbrannten.  
     
  Und wie im August 2005, als der Wirbelsturm Katrina New Orleans ver-wüstete, fanden sich auch ein Jahrhundert zuvor sofort jene Prediger, die behaupteten, eine Stadt wie San Francisco habe die göttliche Strafe selbst herausgefordert.  
     
  Es ist ein urbaner Emporkömmling, der sich da zu Beginn des 20.  Jahr-hunderts an der Pazifikküste als Metropole etabliert hat. Innerhalb von fünf Jahrzehnten ist ein Hafendorf mit kaum 500 Einwohnern zur wichtigsten Stadt des amerikanischen Westens aufgestiegen.  
     
  400.000 Menschen leben jetzt in San Francisco. Seit Beginn des Gold-rauschs im Jahre 1848 ist die Stadt zum Sammelpunkt für einen steten Strom von Glücksrittern geworden, die von hier aus in die Schürfgebiete Kaliforniens aufbrechen. Die mit Säcken voller Goldstaub und mit rohen Manieren zur Küste zurückkehren, um sich in Spielhöllen zu amüsieren oder im Hafenviertel Barbary Coast mit billigem Whiskey zu betrinken, um in den engen Gassen von Chinatown unterzutauchen oder sich in Bordellen wie dem "Hotel Nymphomania" bedienen zu lassen - in einer von dessen 450 Sex-Kabinen.  
     
  Die reicheren unter den Vergnügungssüchtigen, die Händler und Zucker-barone, Eisenbahnbosse und Silbermillionäre, besuchen eher eines der vielen "French Restaurants". In deren Erdgeschossen servieren die Wirte feinste Gerichte, wird Champagner wie ein Grundnahrungsmittel ausge-schenkt. Eine Treppe höher, in verschwiegenem Ambiente, warten die Huren oder die heimlichen Geliebten.  
     
  Die Stadtväter um Bürgermeister Eugene Schmilz, einen ehemaligen Berufsgeiger, kassieren dabei mit: Die Beamten lassen sich bei der Vergabe der Schanklizenzen bestechen. San Francisco steht schon lange im Ruf, die unzüchtigste Stadt der Vereinigten Staaten zu sein. Auch wenn viele der Ausschweifungen mit der Zeit von der glatten Oberfläche einer florierenden, kunstsinnigen Industrie- und Handelsmetropole überdeckt werden: Um die Jahrhundertwende hat die Stadt kaum etwas von ihrem dekadenten Überschwang verloren.  
     
  Warum auch? Die Finanzen sind solide, das Wachstum ist stetig, die Zukunftspläne sind groß: US-Präsident Theodore Roosevelt hat den Hafen von San Francisco zum strategisch wichtigsten Tor nach Asien erklärt. Die Metropole bewirbt sich als Standort einer internationalen Ausstellung zur Eröffnung des Panama-Kanals, und ein berühmter Stadtplaner arbeitet an einem Konzept, wie sich die chaotische Architektur in der Boomstadt zu einem mondänen Gesamtbild umgestalten ließe - vergleichbar mit New York oder gar Paris.  
     
  Kleinere Erdbeben und häufige Feuer, die die Stadt seit der Gründung immer wieder heimsuchen, haben ihren Aufstieg kaum gebremst. Das letzte größere Beben liegt schon fast 40 Jahre zurück. Das Stadtsiegel zeigt einen Phönix, der aus stilisierten Flammen aufsteigt. Der fröhliche Moloch San Francisco ist unzerstörbar. Glauben seine Bewohner.  
     
  Bis auf Dennis Sullivan, den Chef der Feuerwehr. Seit Jahren warnt er, San Francisco mit seinen Häusern aus Mammutbäum- und Kiefernholz sei entzündlich wie ein Pulverfass, ein Großbrand kaum zu kontrollieren. Er hat gefordert, dass die rostigen Süßwasserzisternen repariert und neu gefüllt, dass zusätzliche Salzwasserlöschsysteme mit starken Pumpen im Meer installiert werden müssten. Man hat ihn nicht beachtet.  
     
  Am Morgen des 8. April 1906 liegt Sullivan im Bett in der dritten Etage der Feuerwache Nummer 3 in der Bush Street. Das benachbarte fünfstöckige "California Hotel" hält dem Erdstoß nicht stand, seine kollabierenden Mauern durchschlagen das Dach der Feuerwache, rammen die Wände des Maschinenraums in den Fußboden des Erdgeschosses. Sullivan will noch seine Frau beschützen, ihren Körper im Bett mit einer Matratze bedecken. Doch er stürzt durch den zerfetzten Etagenboden und wird von Trümmern verschüttet.  
     
  Am Tag der größten Katastrophe ist ausgerechnet der Chef der Feuerwehr unter den ersten Opfern. Noch vier Tage wird er im Krankenhaus über-leben. Lange genug, um zu erfahren, dass seine Warnungen berechtigt waren.  
     
  Heiße Schornsteine sind auf hölzerne Gebäude gestürzt, Gasleitungen neben funkensprühenden Stromkabeln geborsten. Arglos haben Hausfrauen Feuer in Öfen entzündet, deren Kaminöffnungen bereits verschüttet waren. Der Streifenpolizist James Cook ist der Erste, der einen Brand meldet. Eine Lebensmittelgroßhandlung in der Clay Street steht in Flammen.  
     
  Cook rennt zur nächsten Brandwache. Dort haben die Männer schon ihre verängstigten Pferde vor den Löschwagen gespannt. Die Feuerwehrleute wissen längst, dass sie gebraucht werden - sie haben bloß keine Ahnung, wo. Das Alarmsystem und alle Telefonleitungen sind zusammengebrochen. Und in der ersten Stunde nach dem Erdstoß flammen in der Stadt mehr als 50 Feuer auf.  
     
  Als der Löschtrupp endlich in der Clay Street ankommt, ist die Glut schon auf eine benachbarte Fleischhandlung übergesprungen. Die Feuerwehrleute schließen hektisch die Schläuche an. Nichts.  
     
  Die Hydranten haben keinen Druck, sie sind nutzlos. Erst jetzt wird das Ausmaß der Katastrophe greifbar: Das Beben hat fast 300 Hauptleitungen und mehr als 20.000 Verbindungsrohre zerstört. Es gibt fast nirgendwo Wasser.  
     
  Die Feuerwehrleute behelfen sich mit Sand von Baustellen oder hochge-pumptem Kloakenschlamm. Sie stauen Wasser aus gebrochenen Rohren auf, damit es nicht nutzlos versickert. Wenn nichts anderes übrig bleibt, bekämpfen sie das Inferno sogar mit Soda-Spendern - und müssen oft hilflos zusehen, wie die Schläuche bei einer Hitze von 1.000 Grad Celsius verschmoren.  
     
  Langsam begreifen die Einwohner San Franciscos, was der Reporter James Hopper später so formuliert: "Das Erdbeben war nichts weiter als der Prolog. Die Tragödie sollte das Feuer schreiben." Es wird drei Tage lang wüten.  
     
  Doch noch immer reagieren die meisten Menschen beherrscht. Vielleicht betäubt von der Wucht der Ereignisse, wie es rückblickend der Fotograf Arnold Genthe vermutet, der in seinem verwüsteten Studio nach dem ersten Schrecken zunächst einen "passenden Erdbeben-Dress" sucht. In khakifarbenen Reithosen verlässt er schließlich das Gebäude, um im "St. Francis Hotel" ein Frühstück zu sich zu nehmen - das an diesem Morgen kostenlos serviert wird.  
     
  Hier glaubt Genthe auch Enrico Caruso gesehen zu haben. Gekleidet in Pyjama und Pelzmantel, soll der Tenor aufgebracht an seiner Zigarette gezogen und unentwegt: "hell of a place, I never come back here" gemurmelt haben. Der Wahrheitsgehalt dieser Legende ist aber nicht verbürgt.  
     
  Fest steht, dass Caruso unverletzt geblieben ist, wie fast alle Gäste des "Palace Hotel", in dem durch das Erdbeben nur einige Glasscheiben, Stuck und Täfelungen zerbrochen sind. Doch während im "St. Francis" noch das Frühstück serviert wird, kämpfen im rund 500 Meter entfernten "Palace" schon die Pagen und Kellner gegen das näher kommende Feuer, bespritzen die Süd- und Westfront des Gebäudes mit Wasser aus der hoteleigenen Leitung.  
     
  Das angeblich unzerstörbare Palace hält tatsächlich stand - bis Feuer-wehrleute den Hydranten des Hotels anzapfen, um andernorts einen Brand zu löschen. Der Druck in der Leitung lässt nach, der Kampf ums Palace ist verloren. Kurz nach Mittag betritt "der letzte, unheimliche Gast" das legendäre Hotel, wie ein Schriftsteller die Szene später schildert: "Er zieht eine scharlachrote Robe hinter sich her, dringt in jeden Winkel vor, leise zuerst, dann ungestümer, bis endlich der gesamte Innenhof in gewaltigem Getöse vibriert."  
     
  Caruso verlässt San Francisco am nächsten Tag per Schiff. Er kommt tatsächlich nie wieder zurück.  
     
  Die Reporter James Hopper und Arnold Genthe beginnen am Morgen des 18.April 1906 sofort mit ihrer Arbeit. Als der Fotograf bemerkt, dass fallende Gipsbrocken seine Kamera zerstört haben, läuft er zu seinem Fotohändler und bittet um einen Leih-Apparat. "Nehmen Sie sich, was Sie wollen", sagt der Geschäftsmann. "Dieser Laden wird sowieso komplett verbrennen." Genthe entscheidet sich für eine neue Kodak A3. Seine
Bilder werden ihn berühmt machen. Erst am Nachamttag kommt er auf die Idee, das Fotoarchiv aus seiner Wohnung zu retten. Doch das Haus ist von der Armee schon zur Sprengung freigegeben. Die Straße soll zur Feuer-schneise werden. Man erlaubt Genthe noch, eine Flasche seines besten Rieslings aus dem Keller zu holen. Er entkorkt sie auf der Stelle. Er sieht sein Atelier nie wieder.
 
     
 

Erdbeben in San Francisco 1906

 
     
  Denn inzwischen verläuft der Kampf gegen die Katastrophe nach den Regeln der Offiziellen. Um 7.45 Uhr sind die ersten Truppen vom nahe gelegenen Fort Mason in die Stadt einmarschiert, um unter anderem die Münzanstalt, das Hauptpostamt und die Ruine des Rathauses zu bewachen wo im Schatzamt sechs Millionen Dollar liegen. Am Vormittag bringt ein Zerstörer der Marine Ärzte, Krankenschwestern und Soldaten in die Stadt.  
     
  Der Gouverneur von Kalifornien, George Pardee, kabelt seine Einschätzung der Lage an Präsident Roosevelt ("kein Zweifel, Kalamität sehr ernst") und kanalisiert von Oakland aus den mächtigsten je da gewesenen Strom von Spenden aus dem ganzen Land: 100.000 Dollar von Stahlbaron Andrew Carnegie, Material für ein Flüchtlingslager vom Ölmagnaten John D. Rockefeller. Geschäftsleute aus New England schicken Schuhe, Bäcker aus Utah spenden waggonweise frisches Brot, Kartoffeln kommen aus Salem/ Massachusetts, Matratzen aus Portland/Oregon. Bis zu 150 Eisenbahn-waggons mit Hilfsgütern erreichen jeden Tag den Ort der Katastrophe.  
     
  Im Zentrum der Nothilfe aber steht von Anfang an Eugene Schmilz. Der Bürgermeister fällt Entscheidungen in blitzschneller Folge und mit militär-scher Präzision: Er verlegt den Sitz der Verwaltung vom zerstörten Rathaus in den Justizpalast, richtet im Übungsschießstand der Stadtpolizei ein provisorisches Leichenhaus ein.  
     
  Er lässt sich die Insassen eines einsturzgefährdeten Gefängnisses vor-führen und entscheidet, welche von ihnen nach einer scharfen Moral-predigt freigelassen werden können und welche im Keller seines provi-sorischen Amtssitzes untergebracht werden müssen. Er vergibt 3.000 Hilfssheriffsterne. Die Elite der Stadt versammelt er in einem "Komitee der 50", einer Notregierung, die zweimal täglich an wechselnden Orten zu-sammenkommt - je nach dem Verlauf der Feuersbrünste.  
     
  Am Nachmittag des 18. April entdeckt ein Mitarbeiter des Bürgermeisters im Mission District eine funktionsfähige Druckerei. Dort lässt Schmitz 5.000 Exemplare einer Proklamation drucken - zwangsverpflichtete Passanten müssen die defekte Stromversorgung der Presse mit einer Tretkurbel er-setzen.  
     
  Das Papier, das Stunden später an Laternenpfählen und Telegraphen-masten hängt, macht den Bürgern deutlich, dass der Bürgermeister rabiat für Ordnung sorgen wird. Schmitz verhängt eine Ausgangssperre nach Einbruch der Dunkelheit. Er verbietet Kerzenlicht und offene Flammen in allen Gebäuden. Saloonbesitzern droht er: Wer das Verkaufsverbot für Alkohol nicht beachtet, dessen Whiskey-Vorrat wird auf die Straße ge-kippt. Und er teilt mit, dass er Polizisten, Soldaten und Bürgermilizen autorisiert hat, "jeden auf der Stelle zu TÖTEN, der beim Plündern oder irgendeiner anderen Straftat" ertappt wird. Später gibt er zu, dass er zu solchen Befehlen gar nicht ermächtigt war.  
     
  Ob während des Notstandes tatsächlich, wie offiziell verzeichnet, neun Menschen erschossen wurden oder ob weit mehr Leichen mit Schussver-letzungen in den Flammen verbrannten, wird nie festgestellt. Augenzeugen berichten von Willkür; zum Beispiel von einem Mann, der, ermuntert von einem Lebensmittelhändler, sich in dessen verloren gegebenen Auslagen bedient. Als er schwer beladen das Geschäft verlässt, sticht ein Soldat ihn mit dem Bajonett nieder.  
     
  Vielen Bürgern machen vor allem die unerfahrenen Rekruten Angst. Diese nehmen fälschlicherweise an, es herrsche Kriegsrecht in San Francisco. Ein Redakteur des Magazins "Argonaut" beschreibt wie Soldaten "die Stadt besetzten wie einen Feind"; wie "achtlose Männer ganz normale Menschen mit Gewehren vor sich hertreiben" - vor allem, wenn jemand es wagt, eine Absperrung zu umgehen, um erschöpften Feuerwehrmännern zu helfen. Oder wenn jemand gegen die umstrittene Sprengung ganzer Häuserzeilen protestieren will.  
     
  Bereits gut eine Stunde nach dem Beben hat der Interims-Feuerwehrchef die Nachricht an den Kommandanten des nahe gelegenen Armeestütz-punkts "Presidio" gesendet, man benötige "jeden verfügbaren Sprengstoff". Es gibt mehr als genug davon. Schießbaumwolle und Schwarzpulver, granuliertes Dynamit und solches in Stangenform werden in die Stadt gebracht, oft in rasanter Fahrt mit beschlagnahmten Automobilen.  
     
  Das Ziel der Katastrophenhelfer: Sie wollen verhindern, dass das Feuer von hohen Gebäuden aus Straßenzüge überspringt, indem sie bedrohte Häuser sprengen, ehe diese Feuer fangen können. Doch die meisten Soldaten haben kaum Erfahrung mit gezielten Sprengungen. Sie lassen Schwarz-pulverfässer in Holzhäusern explodieren, Ziegelwände zur falschen Seite stürzen und heiße Trümmerstücke über Straßen regnen - die dort mehr als einmal ausströmendes Kanalgas entzünden. Chinatown mit seinen Hütten und engen Gassen, wo Tausende Bewohner noch am Vormittag mit Räuch-erstabchen den Erddrachen zu besänftigen suchten, gehört zu den ersten Vierteln, die in Flammen aufgehen - sie werden angefacht von einer unkon-trollierten Sprengung in der Kearny Street. Am Abend des 18. April steigt Charles Sedgwick, Chefredakteur des Magazins "The British-Californian", auf den Russian Hill im Nordosten der Stadt. Er will sich einen Überblick verschaffen.  
     
  Die beiden größten Feuer haben sich in den südlichen Vierteln aufeinander zu bewegt und zu einer geschlossenen Flammenwand vereinigt. Ein dritter Großbrand, dessen Ursprung in einem Herdfeuer im Stadtteil Hayes Valley vermutet wird, hat sich von Norden durch die Innenstadt gefressen und Bewohner wie Feuerwehrleute vor sich hergetrieben.  
     
  "Die Szenerie war verstörend schön", notiert Sedgwick. "Tausend Flammenbanner strömten aus. Kirchtürmen, Kuppeln und aufragenden Dächern in den wolkenlosen Himmel. Und all das über einem Meer aus flüssigem Gold, wütend und ungestüm, aber strahlend jenseits der Vor-stellungskraft." Ab und zu sieht er Häuser einstürzen, "himmelwärts ge-hoben von donnerndem Dynamit, um dann zu zerfallen, zu stürzen, wobei sie riesige, feurige Spritzer aus der brennenden See schlagen. Angesichts einer so entsetzlichen Macht, die in einer Stunde nieder reißt, was die Gemeinschaft der Menschen über Jahre, errichtet hat, fühlen wir uns kümmerlich und sinnlos. Unsere Schwäche würde lächerlich wirken, wenn sie nicht so bemitleidenswert wäre."  
     
  Über der Innenstadt steigt die heiße Luft wie durch einen Schornstein in die Atmosphäre. Der so entstehende Unterdruck saugt aus allen Himmels-richtungen frischen Sauerstoff ins Zentrum von San Francisco. Über der Bucht, so berichten Zeugen, frischen die Windböen dabei "zu halber Sturm-stärke" auf, blasen in Richtung der Feuer, fachen sie immer weiter an.  
     
  Die Flammen ernähren sich selbst. Unter dem "flüssigen Gold", das Sedgwick durch die Straßen branden sieht, verbrennen 508 Häuserblocks, mehr als 28.000 Gebäude. Verglühen Balken, Möbel, Wäsche, Bücher. Und die Körper all jener Verschütteten, tot oder lebendig, die nicht rechtzeitig aus den Trümmern gegraben werden.  
     
  Die Zahl der Flüchtlinge lässt sich nur schätzen. 200.000 sollen es gewesen sein, die halbe Stadt. Ihr Exodus durch die von qualmenden Ruinen gesäumten Straßen dauert mehrere Tage - und wird untermalt, von einem allgegenwärtigen Geräusch: dem Kratzen von Koffern, Kisten, Karren und Kommoden, die über die Pflastersteine geschleift werden und immer wieder in den stählernen Rillen der Straßenbahnschienen hängen bleiben.  
     
  "Es war wie ein Eintopf mit allen Zutaten unserer Zivilisation", schreibt die Journalistin Mary Edith Griswold. Sie sieht einen Deutschen mit einer Geige; eine leise weinende Braut. Einen bärtigen Italiener, der den Flammen wütend ein Bild des heiligen Franziskus entgegenhält. Frauen, die Näh-maschinen schieben, Kinder mit Grammophonen. "Schufte aus den Vierteln südlich der Market Street, Opernsänger und dick geschminkte Frauen, die so aussahen, als hätten sie seit Monaten kein Tageslicht erblickt."  
     
  Neben einem alten jüdischen Friedhof an der Dolores Street versammelt sich eine Gruppe von Obdachlosen um einen auf den Bürgersteig gestellten Kochofen und ein Klavier, das jemand aus seiner Wohnung gerettet hat. Auf dem Washington Square liegen Menschen auf dem Pflaster. Manche schlafen. Andere sind tot.  
     
  Wieder andere stehen am Beginn eines neuen Lebens. So der Italiener Amadeo Peter Giannini, ein Lebensmittelhändler, der erst kurz zuvor unter dem Spott der Hochfinanz eine kleine Darlehensbank für seine Landsleute gegründet hat. Während die Manager der großen Kreditinstitute ihre Wert-papiere nach dem Beben sofort in feuerfesten Tresoren verschließen, bringt Giannini seine bescheidenen Bestände an Gold, Silber und Geld noch in der Nacht aus der brennenden Stadt. Auf zwei Gemüsekarren, versteckt unter Apfelsinen, schiebt er sein Kapital in stundenlangem Marsch bis in seinen Wohnort San Mateo. Er will seinen Kunden schon wenige Tage später Kredite für den Wiederaufbau gewähren. Kein Konkurrent kann ihm das Geschäft streitig machen: Sie alle müssen noch wochenlang warten, bis ihre Safes abgekühlt sind - erst dann können sie den Inhalt bergen.  
     
  Aus Gianninis "Bank of Italy" geht gut 20 Jahre später die "Bank of America" hervor, die weltgrößte Bank ihrer Zeit.  
     
  Zupacken, nicht verzagen. Einfach weitermachen: Ist das typisch San Francisco? Typisch kalifornisch? Typisch amerikanisch? Das wäre eine zu einfache Glorifizierung, glaubt der Harvard-Psychologe William James. "Ich würde gern daran glauben, dass wir es hier mit einer normalen und uni-versellen menschlichen Eigenart zu tun haben."  
     
  Stundenlang wandert der Forscher am Tag der Katastrophe durch die Straßen von San Francisco, um das Verhalten der Menschen in dieser Ausnahmesituation zu studieren. Er ist begeistert: "Ich hörte kein jämmer-liches, kein sentimentales Wort, kein Weinen und keine Anklage", notiert James später. Pathos und Seelenqual angesichts von Katastrophen, so der Psychologe, seien offenbar eine Funktion der geographischen Distanz, die der Betrachter vom Geschehen habe. Am Ort des Unglücks aber trete eine "gesunde, animalische Unempfindlichkeit und Hemdsärmeligkeit" in den Vor-dergrund: "Eine Fröhlichkeit, zumindest aber eine Unerschütterlichkeit im Tonfall der Menschen" hat der Psychologe beobachtet. "Und eine Stimmung der Hilfsbereitschaft über alle Maßen."  
     
  So wie bei den Mitarbeitern der Post, die bereits zwei Tage nach dem Erdbeben (als große Teile der Stadt noch brennen) wieder Briefe einsam-meln, sogar in den gerade erst entstandenen Flüchtlingslagern. Sie beför-dern jedes private Schriftstück. Unfrankiert. Und gleichgültig, ob es auf gerettetem Briefpapier, einer herausgerissenen Buchseite, einem Stück Holz oder auf dem Stoff eines abgetrennten Hemdkragens geschrieben ist.  
     
  Wahrend sich draußen in der Welt das Gerücht verbreitet, Plünderer in San Francisco würden Leichen die Finger abhacken, um so Goldringe stehlen zu können, rücken die Überlebenden enger zusammen.  
     
  "Natürlich: In ein paar Wochen wird es einen Haufen nervöser Wracks geben in San Francisco", schreibt der Psychologe William James. "Aber bis dahin werden selbst die einfachsten Menschen, allein deshalb, weil sie Menschen sind, weiter diese bewundernswerte Tapferkeit der Seele zeigen."  
     
  Mit dem Mut der Verzweiflung. Und enormem Einfallsreichtum. Wie etwa bei der Rettung von Hotaling's Whiskeyvorräte: 5.000 Fässer der Hausmarke "Old Kirk" lagern am Tag des Unglücks in der Halle der Destillerie in der Jackson Street.  
     
  Der Geschäftsführer will sie nicht aufgeben, wirbt 80 Männer von der Straße an, die für jeweils einen Dollar pro Stunde Fässer in eine gut ge-schützte Baulücke rollen. Dort werden sie vor der näher kommenden Hitze mit "Kloaken-Kompott" geschützt, den die Arbeiter mit einer umfunktion-ierten Weinpumpe aus der Kanalisation zutage fördern.  
     
  Wenig später können die Whiskeybrenner ihre heroische Rettungsaktion in einen Werbespruch ummünzen, der all jene verspottet, die das Beben für eine göttliche Strafe halten: "If, as some say, God spanked the town, for being over frisky - why did He burn the churches down and save Hotaling's Whiskey?"  
  Wenn Gott, wie manche sagen, die Stadt für ihre große Lebenslust be-strafen wollte - warum hat er dann die Kirchen verbrannt und Hotaling's Whiskey gerettet?  
     
  Die wichtigste Entscheidungsschlacht müssen die Helfer am Donnerstag und Freitag auf der villengesäumten Van Ness Avenue bestehen. Seit Beginn der Brände haben die Feuerwehrleute gehofft, diese Transversale im Westen der Innenstadt sei breit genug, die Flammen aufzuhalten, die Wohngebiete der Western Addition dahinter seien geschützt.  
     
  Doch heftiger Ostwind treibt die Flammen immer weiter in die Richtung der vermeintlichen Barriere. Sie haben Nob Hill umzingelt. Das Mark-Hopkins-Kunstmuseum hat Feuer gefangen. James Stetson, Besitzer der Cable Car Company, beobachtet aus seinem Fenster, wie Armeeangehörige Nachbar-häuser von innen her mithilfe von Chemikalien in Brand setzen; wie sie dann mit Pflastersteinen die Fenster einwerfen, um dem Feuer Sauerstoff zu verschaffen, damit die Gebäude kontrolliert verbrennen, ehe das Inferno ankommt.  
     
  Gegen vier Uhr nachmittags springen die Flammen trotzdem von zwei brennenden Kirchen, deren hohe Fronten besonders viel Hitze, abstrahlen, auf die Westseite der Van Ness Avenue über.  
     
  Die Militärs geben nicht auf. Die rasche Folge der Detonationen gleicht am Freitag früh einem Bombardement. Pferde ziehen Artilleriekanonen auf die Straße, mit denen Häuser aus nächster Distanz zusammengeschossen werden. Als der erfahrenste Schütze sich verbrennt und vor Schmerzen nicht mehr gehen kann, tragen ihn seine Kollegen von Gebäude zu Ge-bäude, setzen ihn auf den Sitz des Kanoniers. Dann öffnet er seine ver-sengten Augenlider und feuert, bis ein Haus in sich zusammenfällt.  
     
  Die Armeeführung behauptet später, es sei solch heldenhafter Opferbe-reitschaft zu verdanken, dass das Feuer in der Nacht zum Samstag tat-sächlich auf die Van Ness Avenue zurückgedrängt wurde. Andere sagen, der wahre Retter sei der plötzlich auffrischende Nordwestwind gewesen.  
     
  Drei Tage nach dem Beben ist das Feuer gestoppt. Das junge Jahrhundert hat seine erste Zäsur. Jetzt versuchen die Menschen, deren Hintergründe zu verstehen. Regierungsinspektoren und Versicherungsexperten finden heraus, dass höchstens zehn Prozent der Schäden unmittelbar auf das Erdbeben zurückzurühren sind, der weitaus größte Teil ist durch das Feuer verursacht worden. Architekten und Stadtplaner analysieren, welche Bau-weisen und Materialien den extremen Umständen besser als andere stand-gehalten haben - und erkennen, dass Häuser, die entgegen den Warnun-gen auf aufgeschüttetem Boden errichtet waren, als Erste in sich zusam-mengefallen sind.  
     
  Die Bürger von San Francisco ordnen ihre Leben neu. Im April und Mai 1906 beurkunden die Standesbeamten so viele Hochzeiten wie niemals zuvor binnen zweier Monate.  
     
  Trotz seiner harten Entscheidungen gilt das Krisenmanagement von Bürger-meister Schmitz als gelungen. Unter seiner Regie beginnt der Wiederauf-bau. Die Innenstadt von San Francisco entsteht neu. Der große Plan zur architektonischen Reform aber wird dabei fast völlig außer Acht gelassen. Beim Wiederaufbau zählt nur die Geschwindigkeit - denn Städte wie Portland, Los Angeles und Seattle könnten sonst die Schwäche ihres Konkurrenten um den ersten Rang unter den Metropolen des Westens ausnutzen. Nicht einmal für eine gründliche Anpassung der Baurichtlinien will man sich Zeit nehmen.  
     
  Vom großen Erdbeben mag das offizielle San Francisco schon wenige Monate nach dem Ereignis kaum noch sprechen. Investoren von der Ostküste sollen die Stadt nicht mit unkontrollierbaren geologischen Risiken in Verbindung bringen.  
     
  Der Bericht des bereits eine Woche nach der Katastrophe eingesetzten "Committee on History" wird nie veröffentlicht. 3.000 schriftliche Zeit-zeugenberichte, Interviews und die Sammlung von 36.000 Zeitungsartikeln über die Ereignisse sind verschollen: Fast zwei Tonnen Papier mit uner-setzlichen Erinnerungen an die zu ihrer Zeit wohl best dokumentierte Naturkatastrophe der Geschichte. Nicht verbrannt/nicht verschüttet: einfach nur vergessen.  
     
  Die Experten des "US-Geological Service" geben die Wahrscheinlichkeit für ein neuerliches Erdbeben in der Region San Francisco bis zum Jahr 2035 mit 67 Prozent an. In einem Handbuch raten sie den Bewohnern der Stadt, immer ein Paar feste Schuhe und eine Taschenlampe unter dem Bett griffbereit zu haben.  
     
  Bei der Rekonstruktion der Katastrophe stützte sich GEO-Redakteur Jens Schröder unter anderem auf das jüngste Buch des Historikers Philip L. Fradkin: "The Great Earrhquake and Firestorms of 1906".  
     
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  GEO 04/2006